„Eine Welt“ im Kopf

In der Schule kommt man schon früh mit der Theorie von Darwin in Kontakt, die ein „survival of the fittest“ postuliert. Sie beschreibt, wie die Entstehung der Arten in der Vergangenheit abgelaufen sein könnte. Häufig wird aus der Theorie die Ableitung „der Stärkere gewinnt“ (und es gibt sogar den Begriff „Sozialdarwinismus“), obwohl Darwin das gewiss nicht so gemeint hat. So rechtfertigt die Theorie Machtstreben, Egoismus und Härte gegenüber anderen. Statt nur auf die Entstehung der Arten, wendet man die Theorie auf das Miteinander und das Zusammenleben an.

Ich kenne keine Untersuchung die beschreibt, welche Auswirkungen die Theorie auf die Entwicklung unserer Welt und Gesellschaft hatte. Aber die Idee, das Leben Kampf ist und der Bessere gewinnt, ist in vielen Köpfen die vorherrschende Weltsicht. „Durchsetzen“ als das einzige wichtige Prinzip darzustellen, das unser Überleben sichert, halte ich für problematisch. Wenn Kampf und Gewinnen das Einzige ist, das uns vorwärts bringt, wird jeder zu meinem Gegner. So wird „sich durchsetzen zu müssen“ zu einem vorherrschenden Prinzip. Es ist im Kopf und in unserer Gesellschaft immer präsent. Je häufiger wir etwas bedenken und besprechen, je fester wird dieser Gedanke in unserem Kopf. Die Denkweise wird ein Bestandteil unseres Lebens und nach ein paar Jahrzehnten zu einem Bestandteil unserer Kultur.  

Mir wiederstrebt dieser Gedanke. Darwin war sich nicht sicher, dass seine Theorie allein die Entstehung der Arten erklärt. Da war er sehr ehrlich und durch und durch Wissenschaftler. In der Natur können wir beobachten, dass sich Arten in bestimmten Umwelten durchsetzen, weil Sie besser angepasst sind. Aber das ist nicht das einzige Prinzip des Zusammenlebens. Es gibt auch Empathie und Selbstlosigkeit, als Grundlage für funktionierende Gruppen und Teams. Empathie bezeichnet laut Wikipedia die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Wir Menschen haben das Potential, diese Fähigkeit zu entwickeln. Wenn wir Empathie jeden Tag gebrauchen, vergrößern wir sie. Nutzen wir sie täglich, wird sie jeden Tag etwas ausgebaut.

Wir Menschen haben ein System im Kopf, das uns befähigt mit anderen Menschen mitzufühlen und uns in sie hinein zu versetzen (Spiegelneuronen und Mentalizing-System). Das hilft uns, zu erkennen wann es dem anderen schlecht geht, er sich gut fühlt oder traurig ist. Es ist Voraussetzung für Hilfe, die wir anbieten oder leisten können. Nur wenn wir die Not des anderen erkennen, so können wir auch etwas tun. Menschen, denen dieses System fehlt oder bei denen es unterentwickelt ist, können keine intensiven Beziehungen eingehen. Wir erleben diese Menschen als abwesend und in einer anderen Welt.

Man hat erst vor ein paar Jahren festgestellt, dass Kinder Empathie schon sehr früh erleben. Die meisten Kinder im Alter von 1-2 Jahren helfen selbstlos, wenn andere in einer Notlage sind. Sogar Kinder, die erst ein paar Monate alt sind, fühlen mit anderen mit. Empathie stellt einen wichtigen Teil des menschlichen Lebens dar. Als eine wichtige Erkenntnis aus den verschiedenen Veröffentlichungen über Kinder und Empathie komme ich zu dem Schluss: Kinder können Empathie früher als „Durchsetzen“. Damit ist Empathie wichtiger als viele andere Fähigkeiten.

Ein Grund für die Entwicklung der Empathie könnte das Glück sein, das man empfindet, wenn man in gesunden Beziehungen mit Freunden oder Partnern ist. In jeder Beziehung werden Glückshormone ausgeschüttet. Mittlerweile ist es erwiesen, dass empathische und dadurch auch altruistische Menschen glücklicher sind als der Rest der Welt. Glücksforscher betonen unablässig, dass Freunde und Beziehung der wichtigste Bestandteil für das Glück ist. Das ist erstaunlich, weil man doch bisher davon ausging, dass Bedürfnisbefriedigung der wichtigste Teil des Glücks und der Zufriedenheit ist. Dies muss jedoch wohl, um den Faktor Liebe und Altruismus ergänzt werden.

Beziehungshormone haben einen hemmenden Einfluss auf die Amygdala und den Thalamus und damit auf unsere Ängste. Das kann man auch in Experimenten mit Rhesus-Äffchen gut zeigen. Allein haben diese kleinen Äffchen panische Angst vor Hunden. Selbst wenn sie im schützenden Käfig sind und der Hund sich davor befindet verfallen sie in angsterfülltes Gekreische. Ist jedoch ein Freund (also ein anderes Rhesus-Äffchen) dabei, ist die Angst wie verflogen. Geht mir genauso. Wenn ich in Panik bin, und ein Freund ist dabei, werde ich automatisch ruhiger.

Empathie verhilft uns auch zu einem evolutionäreren Vorteil. Gruppen, in denen sich die Menschen mögen, sind kreativer und leistungsfähiger als solche, die sich nur streiten. Und in der Tat kann man verschiedene Formen des Zusammenlebens simulieren. Leben altruistische und egoistische Personen zusammen, so werden die Altruisten ausgenutzt und die Egoisten behalten die Oberhand. Das spricht für das Prinzip „Durchsetzen“. Leben jedoch Altruisten in einer Gruppe zusammen, so hat diese Gruppe Vorteile gegenüber einer Gruppe von Egoisten. Die Altruisten setzen sich mühelos durch. Weil die Mitglieder sich untereinander helfen und sich stärken. Weil sie füreinander da sind und sorgen.

Evolutionär gesehen, haben sich also Gruppen mit einem starken Zusammenhalt gegen solche durchgesetzt, die egoistische Einstellungen hatten. Und ein kurzer Blick in die Geschichte läßt diese Idee durchaus plausibel erscheinen. Gruppierungen waren immer dann besonders erfolgreich, wenn sie einen starken Zusammenhalt hatten. Empathie stärkt die Gruppe und das Team.

Doch auch empathische Menschen empfinden Wut und Aggression, wenn ihre Gruppe angegriffen wird. Man hält automatisch zu seinen Gruppenmitgliedern und kämpft gegen die andere Gruppe. Beide Prinzipien gehen Hand in Hand. In der Gruppe Empathie und gegen andere Gruppen „durchsetzen“.

Da kommt einem der Gedanke, wie es wäre, wenn alle Menschen der Welt nur eine Gruppe darstellen würden. Wie wäre es, wenn wir alle Menschen zu unserer Gruppe „die eine Welt“ zählen würden. Dann könnte man Empathie und Mitgefühl für jeden haben und wir müssten uns nicht durchsetzen. Es ist keine andere Gruppe da. Aber dies ist natürlich eine Sichtweise, die erlernt und im Kopf verankert werden muss. Von einigen Meditationsprofi‘s habe ich mitbekommen, dass sie versuchen, alle Menschen als dieser Welt zugehörig zu betrachten und Ihnen aufrichtiges Mitgefühl zukommen zu lassen. Das ist auch meine Vision von der Welt. Wir sind eine Welt und arbeiten zusammen für ihren Erhalt und ihre Entwicklung. Wenn wir uns dabei als eine Gruppe und eine Welt verstehen, können Empathie und Selbstlosigkeit aufblühen und alle hätten davon Vorteile.

Aber ich gebe offen zu, ich empfinde nicht immer und für jeden ein solches Mitgefühl. Manchmal könnte ich den ein oder anderen schütteln und rütteln. Offensichtlich habe ich auch im Laufe des Lebens viel „Durchsetzen“ gelernt. Doch ich merke auch, das Training hilft. Zum einen beeindrucken mich diese liebevollen und empathischen Mönche die seit vielen Jahrzehnten jeden Tag stundenlang meditieren. Irgendwie kommt bei denen das Mitgefühl aus jeder Pore des Lebens raus. Und zum anderen merke ich, dass jede Beschäftigung mit den Gefühlen des anderen mich ruhiger und mitfühlender macht. Wir können unsere Empathie vergrößern und trainieren. Deshalb wurde auch schon öfters ein Empathie-training an unseren Schulen gefordert. Das wäre bestimmt ein gutes Gegengewicht zu dem Prinzip „Durchsetzen“.